Sehr geehrte Damen und Herren,
nach der Fußball-Europameisterschaft ist vor den Olympischen Spielen. Der Sport bestimmt zu einem erheblichen Teil das gesellschaftliche Leben; und das nicht nur in Zeiten der weltweiten Events. Es ist viel Geld im Spiel und – wie die jüngsten Doping-Enthüllungen abermals beweisen – auch Betrug. Warum die Bedeutung des Sports für die Gesellschaft trotz aller Bedenken größer ist, als es viele Politiker wahrhaben wollen, soll dieser – ausnahmsweise etwas andere – Newsletter der Gesellschaft für Orthopädisch-Traumatologische Sportmedizin (GOTS) beschreiben. Auf der anderen Seite soll er aber auch auf die notwendige Aufklärung im Hinblick auf die “Epidemie von Sportverletzungen” hinweisen. Vor allem auch im Jugendsport besteht Handlungsbedarf, potenziell vermeidbare Verletzungen dürfen nicht länger der Grund für spätere körperliche Einschränkungen sein.
Sportverletzungen gehören endlich auf die politische Agenda, betonen Prof. Romain Seil und seine Luxemburger Kollegen Dr. Christian Nührenbörger, Dr. Alexis Lion, Prof. Daniel Theisen und Prof. Axel Urhausen. Im Editorial des von der GOTS herausgegebenen Journals “Sports Orthopaedics and Traumatology“ (32, 97–102 / 2016) beklagen sie unter anderem den dringenden Aufklärungsbedarf, damit die Thematik auch in der politischen Diskussion verankert werden kann. Dabei geht es vornehmlich um unterstützende Maßnahmen; eine staatliche Lenkung des Sports wäre keine Alternative, schreibt Prof. Martin Engehardt in einem Beitrag des „Olympischen Feuer“ der Deutschen Olympischen Gesellschaft.
Mit freundlichen Grüße,
Ihr Andreas Bellinger, GOTS-Pressesprecher
Sport als Chance – Verletzungen auf politische Agenda
Im ersten Teil des Newsletters beschreiben Prof. Dr. med. Romain Seil und seine Kollegen Dr. med. Christian Nührenbörger, Dr. Alexis Lion, Prof. Dr. Daniel Theisen und Prof. Dr. med. Axel Urhausen aus Luxemburg die Notwendigkeit, Sportverletzungen zu thematisieren und die politischen Entscheidungsträger für die Problematik zu sensibilisieren. Prof. Dr. med. Martin Engelhardt skizziert den Nutzen des Sports für die Gesellschaft sowie die Gesundheit und Entwicklung des Einzelnen – im Sinne des “freiwilligen Handelns unabhängig von staatlichen Institutionen”.
Die Probleme politisch thematisieren
(Prof. Seil, Dr. Nührenbörger, Dr. Lion, Prof. Theisen, Prof. Urhausen)
Spricht man mit politischen Entscheidungsträgern über Sportmedizin, geht es zumeist um Doping beziehungsweise Initiativen im Anti-Doping-Kampf. Sportverletzungen spielen zumeist keine Rolle. Die Prävention, Behandlung und Rehabilitation von verletzten Sportlern wird nur selten thematisiert. Es sei denn, der Gesprächspartner wurde selbst oder in seinem Umfeld mit einer Verletzung im Training oder Wettkampf konfrontiert. Die tägliche sportärztliche Arbeit in der Behandlung – und noch wichtiger in der Prävention – von Sportverletzungen ist für die politisch Verantwortlichen ein fast komplett unbekanntes Gebiet. Dabei könnten sie an den bestehenden Missständen am ehesten etwas ändern.
Schon vor drei Jahren erklärte Jacob Kornbeck als Vertreter der Sportsektion der Europäischen Kommission bei einer Diskussion über die “Epidemie von Sportverletzungen”, dass die gesamte Tragweite von Sportverletzungen – insbesondere die Häufigkeit und Schwere der Verletzungen des vorderen Kreuzbandes – bei den politischen Entscheidungsträgern der EU und anderen Verantwortlichen nicht bekannt ist.
Es besteht daher dringender Aufklärungsbedarf, damit die Thematik auch in der politischen Diskussion verankert werden kann. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) unterstützt und fördert die wissenschaftlichen Anstrengungen unter Leitung von Prof. Lars Engebretsen (Oslo), der während der Olympischen Spiele 2004 mit der Registrierung von Sportverletzungen begann. In Athen war die Datenerfassung zunächst nur auf die Mannschaftssportarten begrenzt und wurde 2008 in Peking dann auf alle Sportarten ausgeweitet – und in das IOC-Programm integriert. Engebretsens Daten zeigten, dass sich ungefähr zehn Prozent der Athleten während der Olympischen Spiele verletzt haben.
Ähnliche Erhebungen im Fußball (Champions League), Volleyball, Schwimmen, Ski alpin und Snowboard zeigen vergleichbare oder sogar noch höhere Werte. Durch die Initiative des IOC wurde das Interesse von verschiedenen IOC-Mitgliedern wie dem Staatsoberhaupt Luxemburgs, Großherzog Henri, geweckt. Zudem setzte der Großherzog die aktuelle Forschung und Erkenntnisse über Sportverletzungen auf die Agenda des offiziellen Staatsbesuchs Luxemburgs 2011 in Norwegen (Abb.1).
Abb.1: Vorführung zur Prävention von Verletzungen des vorderen Kreuzbandes am Oslo Sports Trauma Research Centre anlässlich des Luxemburger Staatsbesuchs in Norwegen 2011.
Es war das erste Mal überhaupt, dass Sportverletzungen und die Sportmedizin im Allgemeinen Thema eines Staatsbesuchs waren. Und es zeigte, was einige einfache Schritte von zwei kleinen Ländern bewegen können, um das Bewusstsein für Sportverletzungen zu steigern und erste Bemühungen zu deren Prävention einzuleiten. Es verdeutlicht auch, dass sich die Rolle der Sportmediziner und der Chirurgen nicht nur auf die Behandlung und Heilung von physischen Problemen beschränken sollte, sondern auch deren Prävention einschließen muss – vor allem durch professionelle Zusammenarbeit und mehr politisches Problembewusstsein.
Die Epidemie der vorderen Kreuzband-Verletzungen
Die bei offiziellen Wettkämpfen registrierten Verletzungen sind nur die Spitze des Eisbergs. So zeigt beispielweise die Inzidenz der Verletzungen des vorderen Kreuzbandes (VKB) in den entsprechenden Risikosportarten einen signifikanten Anstieg. Die wissenschaftliche Datenlage beweist eindeutig, dass viele der Läsionen durch ein adäquates Präventionstraining hätten verhindert werden können. Allzu häufig müssen sich die behandelnden Kliniker mit einer therapeutischen Negativspirale nach einer initialen, potenziell vermeidbaren Sportverletzung auseinandersetzen (Abb.2).
Abb.2: Hochgradige trikompartimentale Gonarthrose bei einer 50-jährigen früheren Leistungsturnerin ohne vorheriger Akutverletzung. Die Patientin musste in ihrer 4. Lebensdekade mit Tibiakopfosteotomien an beiden Kniegelenken und mit Anfang 50 mit zwei Knieendoprothesen versorgt werden. Fälle wie diese sind in Sportkliniken an der Tagesordnung. Die direkten und indirekten Folgekosten von Sportverletzungen und -schäden sind derzeit noch nicht abzuschätzen.
Das Gesamtbild der Schicksale der betroffenen Sportler, sowie die langfristigen direkten und indirekten Kosten der Behandlung sind derzeit noch nicht absehbar. Wenn die Zahl dieser und anderer vermeidbarer Sportverletzungen aber so ansteigt, dass sie zu einem ernsten Problem des Gesundheitssystems zu werden droht, ist es Zeit zu handeln. Die Sportmediziner müssen das öffentliche Bewusstsein für diese Problematik stärken, die einen großen Einfluss auf das physische und psychosoziale Wohlbefinden der Sportler sowohl im Leistungssport als auch im Amateurbereich hat. Ein breiteres Bewusstsein für Sportverletzungen in der Öffentlichkeit und besonders in der Politik hätte einen weitreichenden Nutzen für die sportlich aktive Bevölkerung jeden Alters.
Zu viele Verletzungen im Jugendsport
Die Situation ist besonders prekär, wenn es um die Verletzungsprävention im Jugendsport geht. Es gibt stetig mehr hochklassige internationale, kontinentale und globale Sportwettkämpfe im Jugendalter. Mit der Folge, dass zunehmend leistungsorientierte Ziele von den jungen Athleten angestrebt werden. Vielfach unbeachtet von den internationalen Vereinigungen/Verbänden sollen sie die Entwicklung junger Athleten hin zum Hochleistungswettkampfsport fördern.
Leider gibt es zur Zeit aber keinerlei Bestrebungen, welche die wissenschaftliche Auswertung der Sportverletzungen im Jugendalter sowie deren Erhebung und Prävention fördern. Ein typisches Beispiel für Verletzungen im Jugendsport zeigt sich im Kunstturnen der Frauen. In dieser “High-impact”-Sportart sind Überlastungsschäden häufiger als akute Verletzungen. Wissenschaftliche Literatur im Hinblick auf Sportverletzungen im Kunstturnen ist allerdings Mangelware.
Dies gilt überraschenderweise auch für systematische Verletzungsüberwachungs- und Präventionsprogramme. Aber nicht nur im Kunstturnen stehen Überlastungsschäden bei Jugendlichen auf der Tagesordnung von Athleten, Ärzten, Trainern und Betreuern. Wachsamkeit muss deshalb oberstes Gebot sein, um Schäden für die Zukunft der jungen Sportler zu vermeiden. Und das nicht nur in der sportlichen Entwicklung durch hochleistungsorientierte Wettkämpfe, sondern noch wichtiger für ein gesundes und schmerzfreies Leben nach dem Sport. Es ist inakzeptabel, dass potenziell vermeidbare Verletzungen der Grund für spätere körperliche Einschränkungen sind.
Abb.3: Die therapeutische Negativspirale nach einer Kniegelenkverletzung im Langzeitverlauf. Sie beginnt mit einer potenziell vermeidbaren Sportverletzung und endet nicht selten und unter ungünstigen Umständen mit einer schweren Behinderung. Das Gesamtbild der Einzelschicksale sowie die langfristigen direkten und indirekten Folgen von Sportverletzungen sind noch nicht absehbar.
Sport muss freiwillig und unabhängig sein
(Prof. Engelhardt)
Sportarten, in denen bereits in jungen Jahren mit dem leistungsorientierten Training begonnen wird, dürfen nicht prinzipiell an den Pranger gestellt werden. Gerade in solchen Sportarten muss aber streng darauf geachtet werden, dass die Belange der heranwachsenden Jugendlichen berücksichtigt werden. Eine große pädagogische Verantwortung, der einzelne Trainer und bisweilen überehrgeizige Eltern nicht immer gerecht werden. Wirksame Kontrollinstanzen erscheinen hier manchmal wünschenswert zu sein.
Die immer wieder geführten Diskussionen um eine staatliche Lenkung des Sports sind nicht nachvollziehbar. Den staatlich organisierten und zentral geführten Sport haben wir bereits in Hitler-Deutschland, in der UdSSR, der DDR und in China mit den entsprechend negativen Auswirkungen vorgelebt bekommen. Der Sport benötigt wie andere Felder des kulturellen Lebens auch starke Unterstützung durch die staatlichen Institutionen. Aber der gesellschaftliche Wert des Sports ergibt sich durch das freiwillige Handeln unabhängig von staatlichen Institutionen. Unter Berücksichtigung der Grenzen ethischer Verantwortung, die trotz aller Freiwilligkeit von allen Beteiligten akzeptiert werden müssen. Auch wenn die Frage, wo die Grenzen sind, schwer zu beantworten ist.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports ist viel größer, als viele Entscheidungsträger in der Gesellschaft es realisieren. Sport ist für die Gesundheit der Bürger und den Zusammenhalt der Gemeinschaft von immanenter Bedeutung. Mehr denn je angesichts des zunehmenden Bewegungsmangels, Übergewichts und natürlich auch vor dem Hintergrund der Integration der Flüchtlinge. Und nicht zuletzt fördert Sport – insbesondere der Leistungssport – die persönliche Entwicklung. Man lernt, dass man für Erfolge hart arbeiten und konsequent leben muss. Dass man aber auch mit Niederlagen umgehen und diese konstruktiv verarbeiten muss. Und dass Teamgeist ein unverzichtbarer Teil des Erfolges ist. Ohne den Sport sowie die Ausbildung und Erfahrung hätte ich nicht die Persönlichkeit werden können, die ich heute bin.
Über die Autoren:
Prof. Dr. med. Romain Seil ist Orthopäde und Chefarzt des Departments des Bewegungsapparates Centre Hospitalier de Luxembourg – Clinique d’ Eich; Prof. Dr. med. Axel Urhausen, der von der GOTS zum Sportarzt des Jahres 2016 gewählt wurde und Dr. med. Christian Nührenbörger leiten dort die Abteilung für Sportmedizin. Dr. Alexis Lion und Prof. Daniel Theisen arbeiten im Sports Medicine Research Laboratory am Luxemburger Institute of Health. Prof. Dr. med. Martin Engelhardt ist Chefarzt der Klinik für Orthopädie, Unfall- und Handchirurgie des Klinikums Osnabrück, Präsident der Deutschen Triathlon Union (DTU) und Mitglied in der medizinischen Expertenkommission des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).
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